Alarmstufe Rot an Wiesbadener Grundschulen: Lehrkräfte im Dauerstress
In Wiesbaden herrscht an den Grundschulen Ausnahmezustand.
Die Arbeitsbedingungen vieler Lehrkräfte sind längst über das erträgliche Maß hinausgewachsen.
Dies wurde nun in einer alarmierenden Aktion öffentlich sichtbar: An 41 der insgesamt 66 Grundschulen der Stadt haben die Lehrerkollegien eine sogenannte Überlastungsanzeige gestellt – ein formaler Akt, mit dem Beamtinnen und Beamte ihre Vorgesetzten darüber in Kenntnis setzen, dass sie ihren Dienst unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr ordnungsgemäß erfüllen können.
Diese Entwicklung ist ein deutliches Warnsignal, das nicht ignoriert werden darf.
Der Schulalltag ist in vielen Einrichtungen geprägt von wachsender Frustration, personellen Engpässen, zunehmender Bürokratie und einer Arbeitsbelastung, die kaum noch Zeit für das Wesentliche lässt: die pädagogische Arbeit mit Kindern.
Ein kollektiver Hilferuf aus den Klassenzimmern
Die Masse und Geschlossenheit der Überlastungsanzeigen ist ungewöhnlich – und zeugt von einem hohen Leidensdruck im Kollegium.
Während Überlastungsanzeigen bislang meist nur vereinzelt und individuell gestellt wurden, haben sich diesmal ganze Schulkollegien zusammengefunden.
Diese kollektive Aktion verdeutlicht, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ein strukturelles Problem, das nahezu flächendeckend besteht.
Lehrerinnen und Lehrer stehen tagtäglich vor überfüllten Klassen, einem Mangel an pädagogisch geschultem Personal, fehlenden Schulleitungen sowie einem hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf.
Diese Situation zwingt die Lehrkräfte dazu, permanent zu improvisieren – es fehlt an Planungssicherheit, stabilen Strukturen und vielfach auch an ausreichender Unterstützung.
Lehrermangel als systemisches Dauerproblem
Ein zentrales Problem ist der massive Mangel an ausgebildeten Lehrkräften.
Dieser betrifft nicht nur einzelne Regionen, sondern ist bundesweit zu spüren – in Wiesbaden aber scheint er besonders drastische Ausmaße angenommen zu haben.
Immer häufiger müssen befristet angestellte Aushilfskräfte ohne abgeschlossenes pädagogisches Studium einspringen.
Diese Personen benötigen intensive Einarbeitung und Betreuung, sind jedoch selbst meist nur für kurze Zeit im Dienst.
Nach spätestens zwei Jahren endet der Vertrag, und der Kreislauf beginnt von vorne.
Diese Art der Notlösung bindet nicht nur Ressourcen, sondern verhindert auch eine nachhaltige Personalentwicklung.
Gleichzeitig fehlt es an qualifizierten Schulleitungen, die für Struktur und Orientierung sorgen könnten.
Auch Stellen für Integrationshilfen sind unterbesetzt, obwohl sie angesichts der heterogenen Schülerschaft unverzichtbar wären.
Pädagogische Arbeit bleibt auf der Strecke
Was dabei verloren geht, ist das Herzstück schulischer Bildung: die Zeit für pädagogische Beziehungen und individuelle Förderung.
Unterricht muss häufig unter großem Zeitdruck und in einem hektischen Umfeld stattfinden.
Förderbedarf wird oft nicht erkannt oder kann schlichtweg nicht berücksichtigt werden.
Die Lehrkräfte fühlen sich alleine gelassen und zunehmend überfordert.
Viele berichten davon, dass eine reguläre 40-Stunden-Woche längst nicht mehr ausreicht, um allen Aufgaben gerecht zu werden.
Neben dem eigentlichen Unterricht kommen Konferenzen, Elterngespräche, Verwaltungsaufgaben, Förderpläne, individuelle Diagnostik, Inklusionsaufgaben und digitaler Dokumentationsaufwand hinzu.
Für die so wichtige Beziehungsarbeit mit den Kindern bleibt kaum noch Raum.
Die Reaktion der Behörden: Verständnis, aber keine strukturelle Anerkennung
Das Hessische Kultusministerium hat den Eingang der Überlastungsanzeigen bestätigt und hervorgehoben, dass die vorgebrachten Anliegen mit der gebotenen Ernsthaftigkeit behandelt würden.
Allerdings wird betont, dass es sich bei Überlastungsanzeigen grundsätzlich um einzelfallbezogene Vorgänge handele.
Systemische Ursachen sieht man auf Seiten des Ministeriums offenbar nicht.
Diese Einordnung steht jedoch im deutlichen Widerspruch zu den Erfahrungsberichten aus den Schulen.
Dort wird nicht von punktuellen Problemen gesprochen, sondern von einer flächendeckenden Überforderung.
Wenn in über 60 Prozent der Wiesbadener Grundschulen kollektive Anzeigen gestellt werden, lässt sich das kaum noch mit individuellen Umständen erklären.
Verlorenes Vertrauen in schnelle Lösungen
In den Kollegien herrscht große Skepsis gegenüber der Aussicht auf baldige Verbesserungen.
Viele Lehrkräfte haben bereits in der Vergangenheit Überlastungsanzeigen gestellt – ohne nennenswerte Reaktion.
Der Eindruck, mit den eigenen Sorgen allein gelassen zu werden, hat sich tief eingebrannt.
Die aktuelle Aktion wird daher weniger als Lösung, sondern vielmehr als symbolischer Akt des Widerstands wahrgenommen.
Es ist ein deutliches Zeichen dafür, dass ein Umdenken dringend notwendig ist.
Dass sich nun ganze Kollegien gemeinsam positionieren, ist ein Ausdruck von Verzweiflung – aber auch von Solidarität.
Es zeigt, dass die Lehrkräfte nicht mehr bereit sind, die Missstände stillschweigend hinzunehmen.
Ein Beruf, der einst aus Hingabe zu Kindern und Bildung gewählt wurde, ist für viele inzwischen zu einem täglichen Kraftakt geworden.
Bürokratie als weiterer Belastungsfaktor
Neben dem Personalnotstand beklagen viele Schulen die stetig zunehmende Bürokratie.
Formulare, Nachweise, interne Abstimmungen und digitale Berichtspflichten rauben wertvolle Zeit.
Die Einführung neuer Verwaltungssysteme wurde nicht selten ohne ausreichende Schulung umgesetzt.
Statt den Lehrkräften den Rücken zu stärken, wirken viele Vorgaben wie zusätzliche Bürden.
Auch die Erwartungen von Eltern und Gesellschaft steigen stetig – während die Rahmenbedingungen gleich bleiben oder sich sogar verschlechtern.
Schule wird zur Projektionsfläche für gesellschaftliche Probleme, doch die Verantwortung wird einseitig den Lehrkräften zugeschoben.
Was jetzt passieren muss
Die Situation in Wiesbaden steht exemplarisch für viele Regionen in Deutschland.
Die Politik ist nun in der Pflicht, nicht nur mit Verständnis, sondern mit konkreten strukturellen Maßnahmen zu reagieren.
Ein umfassendes Reformpaket muss her – kurzfristige Notlösungen werden dem Ausmaß der Krise nicht gerecht.
Zu den notwendigen Schritten zählen:
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Schnelle Aufstockung des pädagogischen Personals durch gezielte Quereinsteigerprogramme mit begleitender Qualifizierung.
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Entlastung der Lehrkräfte von Verwaltungstätigkeiten durch den Einsatz von Schulassistenzen.
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Stärkung der Schulleitungen durch verbesserte Arbeitsbedingungen und maßgeschneiderte Fördermaßnahmen.
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Verlässliche Verträge für Aushilfslehrkräfte, um Kontinuität zu ermöglichen.
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Ausbau der sozialpädagogischen Unterstützung für Kinder mit besonderem Bedarf.
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Bürokratieabbau durch klare Prozesse, weniger Doppelstrukturen und sinnvolle Digitalisierung.
Fazit: Ein Warnruf, der nicht verhallen darf
Die Überlastungsanzeigen aus Wiesbaden sollten als das verstanden werden, was sie sind: ein Alarmsignal aus der Mitte unseres Bildungssystems.
Wenn über zwei Drittel der Grundschulen eines Schulamtsbezirks öffentlich mitteilen, dass sie am Limit arbeiten, dann kann die Antwort nicht lauten, dass es sich um individuelle Probleme handelt.
Es ist höchste Zeit für eine strukturelle Wende in der Bildungspolitik – nicht nur in Hessen, sondern bundesweit.
Kinder verdienen Schulen, in denen Zeit, Ruhe und Fachkompetenz für ihre Entwicklung vorhanden sind.
Und Lehrkräfte verdienen Arbeitsbedingungen, die diesen Anspruch nicht zur Farce verkommen lassen.